Der Film als Gemälde
Seit jeher inspirieren sich Kunst und Film gegenseitig. Hat der Film doch schon immer den Anspruch, Kunst an sich sein zu wollen. Aber nicht nur das. Der Bezug kann unmittelbarer sein als gedacht. Film ist nicht nur Kunst in bewegten Bildern, er kann lebendiges Kunstwerk sein.
Berühmte Gemälde bestimmen zuweilen die Ästhetik bewegter Bilder. Manche Filmemacher integrieren mit Vorliebe prominente Kunstwerke als Eyecatcher in ihre Filmszenen, nicht selten als Bedeutungsträger im Handlungsgeschehen. Doch Filmbilder an sich erinnern auch direkt an das Werk eines berühmten Künstlers, gar an englische Landschaftsgemälde oder an Motive bedeutender Kunstwerke – in der Filmgeschichte lassen sich viele Vorbilder aus der Kunstgeschichte finden, die Regisseure immer wieder aufs Neue faszinieren. Von Hitchcock, Pasolini bis Kubrick, von Godard bis Lars von Trier, sie alle nutzten die visuelle Kraft weltberühmter Meisterwerke.
Mit Barry Lyndon von 1975 gelang Stanley Kubrick ein einzigartiges, bildgewaltiges Meisterwerk, das von seiner authentischen Atmosphäre lebt. Ausgezeichnet mit vier Oscars überrascht dieses Gesamtkunstwerk durch seine getreue Optik im Stil des 18. Jahrhunderts und beweist wie eindringlich englische Gemälde die filmische Ästhetik bestimmen können. Der Production Designer Ken Adam komponierte hierfür Filmbilder des Barock und Rokoko in zeitgetreuem Gewand. Es sind Stillleben der höfischen Gesellschaft in den Gärten, Schlössern und Räumen historischer Schauplätze. On Location wurde an berühmten Orten gedreht, in Sanssouci in Potsdam, am Schloß Ludwigsburg in Stuttgart oder in Stourhead in Wiltshire. Drehorte des Realen tragen zur authentischen Stimmung bei, fast dokumentarisch bilden Adam und Kubrick die Zeit ab. Und doch ist es dies nicht allein. Barry Lyndon ist eine Hommage an die Malerei des 18. Jahrhunderts. Bildkompositionen ähneln Gemälde eines Antoine Watteau oder eines Thomas Gainsborough. Die Werke eines Joshua Reynolds oder eines William Hogarth liefern Vorlagen dramatischer Momente des Lebens, Schattenseiten der Gesellschaft, als moralische Bildzyklen in farbenprächtigen Einstellungen oder pittoresken Landschaftsaufnahmen.
Kubrick und Adam komponierten Filmgemälde in Überlänge. Ihr Meisterwerk ist nicht nur ein dokumentarischer Film über die Zeit und den Protagonisten Barry Lyndon. Es ist ein Film über die Kunst der Zeit, über die visuelle Kraft und Ästhetik der Epoche. Die morbide Spannung der Bilder gleicht dem Ausdruck zerfallener Kunstwerke in einer bereits in Auflösung befindlichen Gesellschaft. Es sind Bilder einer Gemäldegalerie, lebendig gewordene Kunstwerke.
Ein opulentes und kunstreiches Werk, ein Augenschmaus in Zeiten der fehlenden Kunst on location im Museum. Ein Film-Kunst-Erlebnis der besonderen Art und eine Empfehlung für den digitalen Museumsbesuch in Spielfilmlänge.